Fassungslos blicken der Rest Europas und die übrige Welt derzeit nach Großbritannien, wo ein Mann namens Boris Johnson mit aller Gewalt eine Art von Diktatur errichten möchte, an deren Spitze er sich natürlich nur sich selbst vorstellen kann. Der Möchtegern-Despot schreckt vor keiner Hinterlist, Gemeinheit und Lüge zurück, um sein Land, koste es, was es wolle, aus der Europäischen Union zu lösen.
Er nennt das „befreien“, ganz so, als hielte Europa die Briten gefangen. Das ist nur eine seiner vielen Tatsachen-Verfälschungen, noch eine eher harmlose. Johnson wurde nur deshalb Premierminister, weil die etwa 100.000 Mitglieder der konservativen „Tories“ ihn zu deren Vorsitzenden gewählt haben. Die übrigen 66 Millionen Briten hatten da nicht mitzureden, was einen merkwürdigen Eindruck von der britischen Demokratie vermittelt, die als die älteste der Welt gilt und auch von uns gern als Vorbild betrachtet wird.
Nun muss man dabei bedenken, dass die Briten über ein sehr ausgeprägtes Selbstwertgefühl verfügen, dass sich vor allem aus den Erfolgen in längst vergangenen Zeiten herleitet, als man als Großmacht galt. Genau betrachtet, gründen sich der frühere Weltmachtstatus und der unzerrüttbare Stolz der Insulaner auf die Untaten von Eroberern, Sklavenhändlern, Freibeutern, Mördern und Seeräubern, von denen der bekannteste Sir Francis Drake hieß. Der wurde 1581 in Anerkennung seiner vielen Verbrechen geadelt.
Dass ein Volk, dessen Nationalstolz ganz überwiegend auf übelsten Untaten fußt, sich nun mit einem politischen Anführer wie Boris Johnson herumplagen muss, erscheint, so gesehen, nicht mehr als recht und billig – wäre da nicht der Schaden, den dieser Polit-Rabauke dem Rest der Welt zuzufügen beabsichtigt. Denn der Austritt aus der EU wird für die 27 verbleibenden Mitglieder, aber auch für viele andere etliche Nachteile mit sich bringen. Ungeachtet dessen werden den größten Schaden die Briten selbst erleiden, was Johnson aber bestreitet und seinen Landsleuten durch dreiste Faktenfälschungen auszureden nicht müde wird.
Das Vereinigte Königreich hat über 12.000 Kilometer Küstenlinie, weshalb die meisten der 66 Millionen Bürger eigentlich am Wasser wohnen müssten. Dem nimmt das eher herbe Klima jedoch einen großen Teil seines Reizes, weshalb auch das schottische Hochland und andere Gegenden ohne Meerblick besiedelt sind. Allein die Hauptstadt London hat über 8 Millionen Einwohner – zumeist Börsenmakler und durch Cum-Ex-Geschäfte reich gewordene Finanzgauner.
Der Brite selbst sieht sein Land als den Nabel der Welt. Vom Rest Europas durch den Ärmelkanal getrennt, hat man sich schon immer vom Kontinent abgegrenzt und isoliert und nie als Teil davon betrachtet. Umgekehrt ist auf dem europäischen Festland gern von den „Inselaffen“ die Rede, wenn es um die Briten geht – eine Beleidigung, der Boris Johnson scheinbar gern die Schärfe nehmen möchte, indem er ihr zu entsprechen versucht. Aber was soll man wirklich von einem Volk halten, das sich ungeniert über seine erfolgreichsten Verbrecher definiert (siehe oben) und die Überheblichkeit erfunden zu haben scheint? Und dessen Wählerschaft auf die unverschämten Lügen der Brexetiers während des Wahlkampfes vor der Volksabstimmung über den EU-Austritt hereinfiel?
Die bekannteste Tatsachenfälschung war die „350-Millionen-Lüge“, der zufolge Großbritannien angeblich 350 Millionen Pfund pro Woche an Brüssel zu überweisen habe. Auflagen- und skandalorientierte Boulevardzeitungen ohne Gewissen in den Redaktionen verbreiteten dies unermüdlich. Nach einer Umfrage hielten 47 Prozent die Zahl für richtig, nur 39 Prozent glaubten, dass sie falsch sei. Und das war sie. Denn Dank des von Margaret Thatcher seinerzeit ausgehandelten Sonderstatus verringert sich die wöchentliche Zahlung der Briten auf 250 Millionen Pfund. Abzüglich der Milliarden, die jährlich aus EU-Töpfen auf die Insel fließen, bleiben noch 110 Millionen Pfund, die Großbritannien netto pro Woche zahlt. Immer noch viel Geld, aber dennoch äußerst rentabel investiert, wenn man die Vorteile der EU-Mitgliedschaft wie den Zugang zum gemeinsamen Markt bedenkt. Die Brexit-Befürworter ließen den Bus, mit dem sie durchs Land tourten, fett mit der erlogenen Behauptung beschriften.
Nun stellt sich die Frage, was, wie Johnson behauptet, undemokratisch an einer neuen Volksabstimmung zum Thema Brexit sein soll, wenn doch 2016 beim ersten Mal das Ergebnis von 51,89 Prozent für den Brexit ganz wesentlich durch Falschinformationen, genauer: Wahllügen, zu Stande kam. Und man fragt sich auch, welche kognitiven Defizite bei den Wahlberechtigten es möglich machen, dass sich solche Lügen auch dann noch durchsetzen, wenn sie eindeutig enttarnt sind. Bevor erneut Überlegungen in Richtung die britischen Inseln bewohnender Primaten aufkommen: Ähnlich lief es auch in anderen Ländern, zum Beispiel den USA, wo in den letzten Jahren reihenweise Wahlen von populistischen Lügenbolden gewonnen wurden. Besonders untragbar erscheint, dass ein derartiges Verhalten wohl nirgendwo auf irgend eine Weise strafbar ist.
Aktuell sieht es nicht danach aus, als käme es zu einer neuen Brexit-Volksabstimmung; viel wahrscheinlicher sind Neuwahlen. Wenn Boris Johnson verliert, sollte ein anderer gute Aussichten haben, neuer Premierminister zu werden. Nigel Farage ist der wahre Erfinder des Brexits, Mitbegründer der neuen „Brexit Party“, und hat gute Aussichten auf den Wahlsieg. Nein, er ist keinen Deut besser als Boris Johnson. Alles sieht aus nach einer Entscheidung zwischen Pest und Cholera.