Wer bin ich? Woher komme ich? Warum bin ich hier?

Wappen Herb GOZDAWA

Wappen Herb GOZDAWA

Früher hat es mich nicht interessiert. In jüngeren Jahren habe ich mir keine Gedanken gemacht über meine Herkunft, wer meine Vorfahren waren, wo sie lebten, was sie taten. Das änderte sich später.

Seit 2015 kamen immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland. Wie sie empfangen wurden und wie man sie dann behandelte, weckte meine Erinnerungen an das, was schon einmal passiert war.

Die Familie meines Vaters stammt aus Ostpreußen. Am Ende des 2. Weltkrieg kamen meine Großeltern und die jüngere Schwester meines Vaters ebenso wie er selbst ins Siegerland (über die Flucht vor den russischen Truppen oder die damit verbundenen Umstände und Ereignisse wurde auch in späteren Jahren so gut wie nicht gesprochen), und die restliche noch lebende Verwandtschaft meiner Großeltern trudelte nach und nach ebenfalls ein. Meine Großeltern hatten in einem Dorf nahe der ostpreußischen Kreisstadt Treuburg von ihrer Landwirtschaft gelebt. Sie wohnten den Erzählungen nach in recht bescheidenen Verhältnissen im eigenen Haus und bewirtschafteten ihr eigenes Land.

Als sie im Westen ankamen, hatten sie nichts mehr. Sie landeten in einer Holzbaracke auf dem Fabrikgelände eines metallverarbeitenden Unternehmens, vermutlich einer Gießerei. In meinen frühesten Kindheitserinnerungen begleite ich meinen Großvater auf seinem Gang zum Ofen, in den er alle paar Stunden, Tag und Nacht, Koks hineinschaufelte, damit er nicht ausging. Mein Opa war dort offenbar angestellt, die Baracke wurde ihm von seinem Arbeitgeber überlassen.

Die Einheimischen begegneten den „Flüchtlingen“ mit Argwohn, teilweise unverhohlener Ablehnung bis hin zur Verachtung. Die Fremden kamen mit dem, was sie am Leib trugen und ein paar wenigen Habseligkeiten, die den langen Fluchtweg überstanden hatten. Die Einheimischen befürchteten nun, ihnen könnte etwas weggenommen werden, wenn die Flüchtlinge blieben. Ich war damals noch sehr jung, aber in den Jahren danach war dieses Thema sehr oft Gegenstand der Gespräche bei Familientreffen aller Art.

2015 wiederholte sich das alles. Ich musste während der folgenden Zeit immer wieder daran denken, dass es den Syrern, Afghanen und anderen Geflüchteten nunmehr genauso erging wie damals meinen Verwandten väterlicherseits. Dass sie zudem eine völlig andere Kultur, eine fremdartige Religion und ihre speziellen Sitten und Gebräuche mitbrachten, war einer reibungslosen Integration auch nicht wirklich dienlich. Die meisten von ihnen besaßen ebenfalls nichts, was bei vielen Bürgern mit deutschem Pass Argwohn schürte und die Befürchtung förderte, dass viel Steuergeld für die Fremden aufgewendet werden müsste. Die in letzter Zeit angekommenen Ukrainer*innen (zumeist Frauen und Kinder, weil die Männer wegen des Krieges das Land nicht verlassen dürfen) haben zumindest nicht das Problem, wegen ihrer Religion auf Ablehnung zu stoßen. Dass kaum junge Männer dabei sind, ist gewissermaßen eine Besonderheit. Wie ich las, wollen zwei Drittel der Neuankömmlinge nach den Kampfhandlungen wieder zurück. Verbleiben gut dreißig Prozent, die Ihre Männer nachholen und bei uns sesshaft werden wollen. Wir sollten froh darüber sein und ihnen helfen, wo wir können.

Wegen der für mich offenkundigen Parallelen vermochte ich die Bedenken gegenüber Geflüchteten in unserem Land noch nie zu teilen. Meine Vorfahren waren zwar Christen, aber schon ihre Mundart verriet ihre Herkunft. Und das Verständnis für die Neuankömmlinge der Alteingesessenen, die unter dem Krieg weit weniger zu leiden gehabt hatten, die noch ihre Grundstücke und Häuser, ihren Hausrat, ihre Arbeitsstellen und alles andere hatten, war gering, ihr Argwohn umso größer. Alles war damals schon so wie heute wieder.

Mit der Zeit war ohne jegliches Zutun meinerseits noch etwas passiert: Ich war älter geworden. Auch diesem Umstand schreibe ich einen Teil des Interesses zu, das ich nach und nach für meine Vorgeschichte entwickelte. Ich bekam Kontakt zu einem sehr entfernten Verwandten in Leipzig, der bei seiner eigenen Ahnenforschung auf die väterliche Seite meiner Verwandtschaft gestoßen war. Er hatte die Ergebnisse von Nachforschungen in alten Quellen, Kirchenbüchern, Behördendokumenten und anderem Informationsmaterial. Durch ihn, dessen Kontaktdaten ich leider „verschusselt“ habe, erfuhr ich auch, dass ich in dem flapsigen Begriff vom „alten polnischen Landadel“ mitgemeint bin: Meine Vorfahren waren in verschiedenen Adelsverzeichnissen eingetragen in Polen, Litauen und Belarus (früher Weißrussland). Unter meinen Ahnen gab es einen Landesrichter in Upita (Litauen) oder auch einen Höfling des Königs und Landrat (Starost) in Dynamund (ebenfalls Litauen), es waren Gutsherren, Stadtschreiber, Fahnenträger und Helden im 30-jährigen Krieg dabei, die gegen die Schweden gekämpft hatten. Offenbar ist meine Familie berechtigt, das Wappen der Herb Gozdawa zu führen – was immer das praktisch bedeuten mag. Ich vermute mal: gar nix, hat aber nicht jeder. In diesem Beitrag dient das Wappen als Artikelbild, nur mal so zum Angeben.

Schließlich war ich dann so weit, dass ich Genaueres über meinen Stammbaum wissen wollte. Ich meldete mich bei zwei Online-Portalen an, die sich der Ahnenforschung widmen. Bei myheritage.de legte ich einen virtuellen Stammbaum an, der schon bald überquoll, weil das System unendlich viele Quellen anzapft. Restlos unübersichtlich wurde es aber, als ich eine DNS-Probe dorthin sandte. Binnen weniger Wochen wurden mir über 4.000 neue Verwandte angezeigt. Zudem gab es hunderte von Querverweisen zu anderen dort angelegten Familien-Stammbäumen. Ich gab irgendwann den Versuch auf, die Namen in meinen Stammbaum zu integrieren, weil ich beim besten Willen keine Verifizierung vornehmen konnte. So ist mein Projekt Stammbaum immer noch ein unvollendetes.

Meine Gene: Ethnizitätsschätzung bei MyHeritage.de

Was ich jedoch mitnehme ist die Erkenntnis, dass ich selbst bei weitem nicht so deutsch bin, wie ich immer dachte: Meine Gene weisen hin auf eine Abstammung, die zu 35 % osteuropäisch (litauisch, polnisch, weißrussisch) ist, zu 21 % englisch, zu 18 % baltisch, zu 18 % skandinavisch und zu 3 % westasiatisch. Ach ja: 5 % von mir sind irisch, schottisch und walisisch. Endlich verstehe ich meine abartige Affinität zu in Cornwall gedrehten Rosamunde-Pilcher-Filmen, die mir ausgesprochen peinlich ist.

Klar ist, dass so jemand unmöglich eine Einstellung gegen die Aufnahme von Geflüchteten entwickeln kann – schon gar nicht, wenn sie vor einem Krieg geflohen sind. Es ist nur logisch, wenn so jemand bei der Verwendung von Begriffen wie „Umvolkung“ Pickel bekommt. Ein rein sachlicher Aspekt: Es ist ausgesprochen dumm, die klaren Fakten zu verleugnen und einfach zu negieren, dass wir rund 400.000 neue Fachkräfte pro Jahr brauchen, die sich aus der vorhandenen Bevölkerung nicht hervorbringen lassen. Und wer Syrer, Iraner, Afghanen oder neuerdings auch Ukrainer kennenlernt, die ihren akademischen Abschluss nutzen, um bei uns als Ärzt*innen oder Rechtsanwält*in Fuß zu fassen oder als Unternehmer*in, Facharbeiter*in oder Handwerker*in nicht nur wertvolle Arbeit leisten, sondern wie du und ich Steuern zahlen und die Sozialkassen füllen, wird seine Freude haben. Zumindest, wenn er oder sie so ähnlich denkt wie ich, also auf ein normal ausgeprägtes Denkvermögen zugreifen kann.

Meine 4.000 Cousinen und Cousins 3. bis 5. Grades sind auf der Erdkugel weit verteilt, leben nicht nur in den oben schon aufgezählten Ländern, sondern auch in den USA, den Niederlanden, in Belgien, Frankreich, Österreich und der Schweiz, sogar im Iran gibt es welche und in verschiedenen anderen Ländern.

Warum sich meine eigene Einstellung und Haltung so klar und deutlich herausgebildet hat, ist zu einem gewissen Teil wohl auch auf die beschriebene Vielfalt in meiner Abstammung zurückzuführen, die allein es mir schon unmöglich macht, ein Flüchtlingsgegner zu werden. Was aber tun mit all jenen, die einem ähnlichen Genpool entstammen, es aber gar nicht wissen, die sich gegen alles Fremde sträuben und sich vor „Überfremdung“ fürchten? Und mit denen, die sich jeder Logik verschließen und „alternarive Fakten“ streuen? Man sollte ihnen, sofern sie eins haben, das AfD-Parteibuch wegnehmen und gegen eine MyHeritage-Mitgliedschaft umtauschen. Und die Einsendung einer DNS-Probe verpflichtend anordnen. Man würde staunen, wie wenige „reinrassig“ deutsche Flüchtlingsgegner dann noch übrig sind.

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