In seinem Interview mit der Zeit bezeichnete der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert (29) den Kapitalismus als „ohne Kollektivierung nicht überwindbar“ und wurde dafür scharf attackiert – und zwar nicht nur vom politischen Gegner.
Dass Vertreter anderer Parteien seinen Gedanken nicht zustimmen würden, hatte Kevin Kühnert nicht nur einkalkuliert, sondern vermutlich sogar erhofft. Der oberste Vertreter des SPD-Nachwuchses präsentierte sich schon des öfteren als auf Krawall gebürstet. Dass aber mehr oder weniger populäre Parteigenossen aus dem eigenen Lager derart aggressiv auf ihn losgehen würden, dürfte ihn aber schon überrascht haben.
Zur Einkommens- und Vermögensverteilung sagt das „Godesberger Programm“ von 1959:
„Geeignete Maßnahmen sollen dafür sorgen, dass ein angemessener Anteil des ständigen Zuwachses am Betriebsvermögen der Großwirtschaft als Eigentum breit gestreut oder gemeinschaftlichen Zwecken dienstbar gemacht wird. Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass sich das private Wohlleben privilegierter Schichten schrankenlos entfaltet, während wichtige Gemeinschaftsaufgaben, vor allem Wissenschaft, Forschung und Erziehung, in einer Weise vernachlässigt werden, die einer Kulturnation unwürdig ist.“
Dabei hatte er eigentlich nur gesagt, was eigentlich ohnehin zur sozialdemokratischen Grundüberzeugung gehören sollte, nämlich dass große Betriebe kollektiviert werden sollten, weil „ohne Kollektivierung eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar“ sei. Und, angesprochen auf das Unternehmen BMW, konnte er sich auch dessen Umwandlung in eine Genossenschaft vorstellen. BMW befindet sich fast zur Hälfte im Eigentum der Millardärsfamilie Quandt.
Kühnert äußerte sich auch zum Eigentum an Immobilien. „Ich finde nicht, dass es ein legitimes Geschäftsmodell ist, mit dem Wohnraum anderer Menschen seinen Lebensunterhalt zu bestreiten“, sagte er in dem Zeit-Interview, und: „Konsequent zu Ende gedacht, sollte jeder maximal den Wohnraum besitzen, in dem er selbst wohnt.“ Noch besser seien genossenschaftliche Lösungen, und im Optimalfall gebe es überhaupt keine privaten Vermietungen mehr.
Kühnert bewegt sich dabei durchweg auf dem Boden dessen, was seine Partei seit Jahrzehnten vertritt (siehe Info-Kästen).
Im „Hamburger Programm“ aus 2007 heißt es u. a.:
„Kernbereiche öffentlicher Daseinsvorsorge wollen wir nicht den Renditeerwägungen globaler Kapitalmärkte aussetzen.“
Das „Godesberger Programm“ aus 1959 war da noch etwas deutlicher: „Im demokratischen Staat muss sich jede Macht öffentlicher Kontrolle fügen. Das Interesse der Gesamtheit muss über dem Einzelinteresse stehen. In der vom Gewinn- und Machtstreben bestimmten Wirtschaft und Gesellschaft sind Demokratie, soziale Sicherheit und freie Persönlichkeit gefährdet. Der demokratische Sozialismus erstrebt darum eine neue Wirtschafts- und Sozialordnung.“
Ein paar Seiten weiter findet sich ein weiterer Grundsatz:
„Wirksame öffentliche Kontrolle muss Machtmissbrauch der Wirtschaft verhindern. Ihre wichtigsten Mittel sind Investitionskontrolle und Kontrolle marktbeherrschender Kräfte. Gemeineigentum ist eine legitime Form der öffentlichen Kontrolle, auf die kein moderner Staat verzichtet. Sie dient der Bewahrung der Freiheit vor der Übermacht großer Wirtschaftsgebilde. In der Großwirtschaft ist die Verfügungsgewalt überwiegend Managern zugefallen, die ihrerseits anonymen Mächten dienen. Damit hat das Privateigentum an den Produktionsmitteln hier weitgehend seine Verfügungsgewalt verloren. Das zentrale Problem heißt heute: Wirtschaftliche Macht. Wo mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht gewährleistet werden kann, ist Gemeineigentum zweckmäßig und notwendig.“
Kevin Kühnerts Zeit-Interview bescherte ihm dessen ungeachtet einen gewaltigen Proteststurm. Prügel gab’s nicht nur aus den Reihen von CDU, CSU, FDP und AfD, sondern auch von Vertretern der SPD. Der Ex-SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel verglich Kühnert im „Handelsblatt“ gar mit Donald Trump: „Bewusste Tabubrüche, das Ignorieren von Fakten und Empirie, das Mobilisieren populistischer Sehnsüchte und die Inkaufnahme der Beschädigung der eigenen Partei: Das ist übrigens die Methode Donald Trump.“ Kühnerts Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten: „Bei Sigmar Gabriel weiß ich nicht, ob er jetzt der beste Berater dafür ist zu bewerten, ob jemand einen Egotrip irgendwo macht oder nicht.“ Und was hat er? Recht natürlich.
Der Präsident des SPD-Wirtschaftsforums, Michael Frenzel, forderte gar Kühnerts Parteiausschluss. Wobei sich sofort die Frage stellt, was dieser Mann in der SPD verloren hat, scheint er doch deren Grundideologie entweder nicht zu kennen oder abzulehnen. Zustimmung erhielt Kühnert von seinen Jusos, einigen anderen Parteigenossen und der Linken, der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel attestierte ihm zumindest, eine überfällige Debatte anzustoßen.
Wenn sich das hysterische Geschrei um die Sozialismus-Thesen des Vorsitzenden der Jung-Sozen etwas gelegt hat, werden einige Fragen übrig bleiben. Einige davon wären:
- Was stimmt nicht in einer SPD, deren Vertreter zumindest teilweise mit den Grundüberzeugungen, für die die Partei eigentlich steht, nichts mehr zu tun haben wollen?
- Was ist falsch an der Forderung, über Alternativen zu einem auslaufenden, weil vor dem Scheitern stehenden Gesellschaftsmodell nachzudenken?
- Wollen wir wirklich, dass multinationale Großkonzerne tief in alle Bereiche der Daseinsvorsorge eindringen, sie letztendlich komplett übernehmen?
- Gibt es eine demokratische Mehrheit dafür, dass einige wenige Eigentümer und Nutznießer derjenigen Mittel sind, die existentiell sind für so viele?
Schon jetzt können deren Entdecker Patente auf Gene anmelden, Investoren interessieren sich stark für die Übernahme der Trinkwasserversorgung, unsere Daten sind längst handelbares Wirtschaftsgut mit hohem Missbrachspotential, wodurch bereits Wahlen manipuliert worden sind. Denkt man ein wenig weiter, ist zu erwarten, dass irgendwer irgendwann ein System entwickelt, uns die Atemluft in Rechnung zu stellen.
Fürs Erste hat Kühnert mit dem Zeit-Interview eine Schlappe produziert: Die SPD sackte in den Umfragen wieder mal ab, und das kurz vor der Europa-Wahl. Kühnert will Diskussionen wie diese vom aktuellen politischen Geschehen abkoppeln, also auch in Wahlkampfzeiten unpopuläre Positionen vertreten. Auf diese Weise lässt sich im schlechtesten Fall eine ganze Volkspartei versenken. Zu befürchten ist jedoch, dass es ohne solche „Opfer“ nicht gehen wird. Wer erinnert sich noch an die Einsamkeit, mit der in den Achtzigern die Grünen bestraft wurden, als sie mit ihren Thesen zu Frieden, Atomkraft und Umweltschutz mutterseelenallein waren? Und heute? Die Wehrpflicht ist abgeschafft, der Atomausstieg im Gang und der Klimawandel in aller Munde. Es bedarf also mitunter eines langen Atems, wenn es um anfangs nicht populäre Standpunkte geht.
Man sollte erst einmal das Gehirn einschalten, bevor man ihn verteufelt. Und man sollte die eigenen Grundsätze nicht verbrämen und verleugnen, wenn man der SPD angehört. Oder austreten. Und dann sollte man die Debatte annehmen. Sie muss nun einmal geführt werden und entscheidet letztendlich darüber, ob wir uns in Deutschland, Europa, den USA und anderen Industrienationen mit der Möglichkeit zur demokratischen Willensbildung dem ungebremsten Kapitalismus ergeben oder unsere Gesellschafts- und Wirtschaftsform neu erfinden, nur modifizieren, vielleicht aber sogar revolutionieren.
Meine Prognose: Schon bald ist Kevin nicht mehr allein zu Haus.