Wiedersehen nach 45 Jahren
Viersen (OPEN REPORT-kpl). Als ich vor einem halben Jahr aus Neugier mal bei Stayfriends reinschaute und meinen alten Klassenkameraden Carsten fand, trug der sich schon mit dem Gedanken, ein Treffen für unseren Handelsschul-Jahrgang zu organisieren. Mit Fleiß und Hingabe recherchierte er die Adressen aller Klassenkameraden und sorgte für die Organisation eines Klassentreffens.
Mein erstes Klassentreffen überhaupt, wohl deshalb, weil ich durch Umzug und Schulwechsel nie länger einem Klassenverband angehörte, und ich, na ja, meine Schulzeit damals auch nicht länger als unbedingt nötig ausdehnen wollte. Jetzt also, fünfundvierzig Jahre nach dem Abschluss, ein Wiedersehen.
Schon Tage vorher versuchte ich mir vorzustellen, wie es wohl sein, ob ich überhaupt jemand wiedererkennen würde, was man so sagt, nach so langer Zeit, ob jemand mich erkennen würde. Immerhin hatte es mich gleich nach der zweijährigen Schulzeit und anschließender Ausbildung in andere Gefilde verschlagen, nur einem oder zwei meiner Klassenkameraden war ich später noch einmal beruflich begegnet, hatte all die Jahrzehnte keinen Kontakt zu ihnen.
Nun also hinein, das schwarz-weiße Stayfriends-Foto in der Hand, das, auf dem die Namen oberhalb der Köpfe aufgedruckt sind, zu klein, um sie ohne Lupe zu lesen, zu klein zumindest für die meisten Menschen kurz vor der Rente. Die leichten Beklemmungen vergehen nach den ersten geschüttelten Händen, den ersten: „Ich bin die Iris Begrer, weißt du noch, früher hieß ich aber Kamp?“. Das Stayfriends-Foto hilft nicht, ich kann zu keinem der realen Gesichter das passende Gegenstück auf dem Foto finden, stecke es in die Hosentasche. Ich muss mich beherrschen, es nicht laut auszusprechen. „Mensch“, denke ich nur, „was seid ihr alt geworden!“ Es gibt keinen Spiegel im Raum, der mir die Absurdität dieser Aussage klarmachen könnte. Gut so. Ich mache weiter die Runde durch all die Omas und Opas.
Nach zehn Begrüßungen legt sich meine Aufregung vollends, nur ein Rest Unsicherheit bleibt. Der Lärmpegel im Raum ist mittlerweile beachtlich angeschwollen. Und ich werde leicht aufgekratzt. Denn nach und nach dämmert es. Zuerst nur ganz zaghaft, dann hole ich das Stayfriends-Foto wieder raus, kann den Einen und die Andere zuordnen, was mich schon ein wenig beruhigt. Immerhin bin ich nicht auf dem falschen Treffen.
Dann erkenne ich Peter, mit dem ich in den Achtzigern geschäftlich zu tun hatte. Sogar ohne Hilfsmittel. Bald schon muss ich mich zu bremsen versuchen. Denn eigentlich will ich ja wissen, was aus den Wegbegleitern von damals geworden, wie es ihnen ergangen ist. Aber wenn mich jemand nach meiner eigenen Geschichte fragt und dabei ein falsches Stichwort einstreut, komme ich sofort ins Erzählen. Eigentlich will ich mich ja ganz kurz fassen, niemand soll gelangweilt werden. Das gelingt mir nur bedingt, ist mein Eindruck.
Ich erfahre, dass die meisten dem Zweck unserer Schulbildung verpflichtet blieben, sich also sogleich in das Geschäftsleben gestürzt haben. Kein Wunder, eigentlich, denn etliche Mitschüler wurden von den Geschäftsleuten der Gegend in meiner Klasse geparkt, um die nötige Reife für den Eintritt ins Familienunternehmen zu erlangen. Inge zum Beispiel leitet bis heute das Büro des mit Ehemann, Sohn und Schwiegertochter geführten Familienbetriebes, Hannelore hat die Spedition ihrer Eltern übernommen und Ulli betreibt Läden für Bekleidung, musste sich die väterliche Unterstützung aber mit seinen Brüdern teilen, wurde außerdem politisch aktiv und ist jetzt ein waschechter Pirat.
Aber es gibt auch Abweichler. Und die beeindrucken mich besonders, weil ihnen gelang, wozu mir selbst der Mut fehlte, nämlich rechtzeitig vom vorgesehenen Weg abzubiegen und ihren wirklichen Neigungen und Talenten zu folgen. Beispielsweise Ingeborg, die ziemlich bald nach ihrem Abschluss feststellte, dass sie für Musik wesentlich mehr übrig hatte als für Buchführung und so dafür sorgte, dass aus unserer Klasse eine international gefragte Opernsängerin hervorging. Das war eigentlich ebenso wenig zu erwarten wie der Erfolg von Benni als Fotograf. Willi machte eine Karriere beim Militär, Jürgen bei der Polizei.
Zwischen Käsesahne und Büfett muss ich eine Pause einlegen, draußen, auf der Terrasse. Mir lassen die bewaldeten Mittelgebirgshänge, auf die ich jetzt wieder schaue, den Unterschied zu meiner neuen Wahlheimat am Niederrhein bewusst werden. Platt. Flach. Langweilig, verglichen mit dem hier. Das denke ich bei jedem Aufenthalt in dieser Gegend. Landschaftlich habe ich mich also in fünfundvierzig Jahren um kein Deut verbessert.
Wieder im Raum, begegnet mir Annegret. Annegret! Sie war meine Jugendliebe während der Handelsschulzeit, bestimmt für ein Jahr. Damals hatte sie aber nur Augen für Willi, der war drei Jare älter als ich und voller Akne. Letztere neidete ich ihm besonders, weil ich sie für ein besonders markantes Zeichen dafür hielt, dass er schon so gut wie erwachsen war. Während Annegret überhaupt nicht bemerkte, dass ich in ihrer Klasse war, verzehrte ich mich nach ihr und war ansonsten die meiste Zeit erfolglos damit beschäftigt, nicht wie ein zurückgebliebener Vierzehnjähriger auszusehen, ihr nicht aufzufallen und meine Zuneigung zu kaschieren, damit ich nicht verlacht wurde. Und das wäre ich unweigerlich, wie ein ganz kurzer Blick auf das Styfriend-Foto immer noch zeigt. Zum Glück gibt es keine Gelegenheit, sich ausgiebig der Erinnerung an die alten Minderwertigkeitsgefühle hinzugeben, dafür ist es viel zu interessant.
Und sonst? Ich höre überwiegend Erfolgsgeschichten. Dieter zum Beispiel, dem knubbeligen Knuddeltypen mit der Glatze, der mich irgendwie an DJ Ötzi erinnert. Der ist jetzt der angesagteste Gastronom im Landstrich, mit In-Kneipen, jeder Menge anderer Geschäfte und, so vermutet man, dem dazu passenden Bankkonto. Oder Manfred, der sich als Anlagebrater ausgibt, es offenbar zu erheblichem Wohlstand gebracht hat und der die Frage provoziert, ob seine Frau auch Veronika heißt. Bestimmt aber war er der Ghostwriter für das Maschmeyer-Buch.
Ich kann einfach nicht alles behalten. Ich muss dauernd auf die umgehängten Namensschilder schielen, weil mir selbst die gerade wieder neu erlernten Namen immer schneller wieder abhanden kommen. Parallel dazu spüre ich, wie in meinem Kopf so etwas wie ein Defragmentierungsprogramm startet, damit der Speicherplatz neu geordnet wird. Hoffentlich drückt jetzt keiner auf Alt+Del, dann ist alles weg.
Es gibt auch die anderen Lebenswege, die nicht so schnurgerade verlaufen sind und nicht immer steil nach oben. Kuno erzählt davon, dass er verschiedene Gechäftsideen verfolgt hat, lange Zeit auch erfolgreich, um dann später doch zu scheitern. Er ist jetzt wieder selbständig, als Ein-Mann-Betrieb, hat sein Auskommen – und macht einen ausgesprochen zufriedenen Eindruck.
Erlebnisse und Untaten von damals machen die Runde. Ich merke, wie viele Erinnerungen mein Gehirn mit neuen Erfahrungen zugeschüttet hat, die es jetzt mühsam aus den untersten Ecken wieder hervorkramen muss. Die Datenrettung klappt nur schleppend, und dann auch nur für manche Fragmente. Carsten entpuppt sich als Handelsschul-Wiki, weiß noch alles, von jedem Tag und, schlimmer, von jedem seiner Mitschüler. Ich glaube, der hat auch sämtliche Geburtstage im Kopf, die der Kinder und Lebenspartner auch, und alle Schulnoten, mitsamt den Schuhgrößen der sie vergebenden Lehrer.
Auffällig, dass das nicht eintritt, was ich eigentlich befürchtet hatte, was ich von Gelegenheiten kenne, bei denen mehr als ein Mann anwesend ist: Mir kommt keine Prahlerei zu Ohren, keine dieser unangenehmen „Wer-hat-den-Längsten“-Wettstreitereien, die nur unter Männern gepflegt werden: Geld, Häuser, Autos, Macht, Frauen. Das lässt sich, glaube ich, zu einem guten Teil mit der getrennt erworbenen, aber uns alle verbindenden Lebenserfahrung erklären. So hat unser fortgeschrittenes Lebensalter auch mal was Gutes, denke ich mir.
Und finde: Zehn Stunden sind jetzt aber auch genug. Für’s Erste, zumindest. Ich bin geschafft, muss schlafen gehen, ein Uhr. Der Tag war toll, aber auch anstrengend. Zehntausend Eindrücke wollen verarbeitet werden.
Ich beginne zu überlegen, mit wem ich wann eine Kontaktpflege anfangen soll, habe aber nichts zum Aufschreiben, weil ich schon im Bett liege. Den Beteuerungen, ein solches Treffen binnen kürzerer Zeit zu wiederholen, vermag ich nicht so recht zu trauen. Viel wahrscheinlicher ist, denke ich vor dem Einschlafen, dass wir den Turnus beibehalten werden. Demnach werden wir uns alle 2057 wiedersehen. In dem Jahr werde ich hundertsechs. Ich bin mal gespannt, ob ich meinen Urenkel dereinst überreden kann, meinen Transport zum Klassentreffen zu organisieren und mich in den Veranstaltungsraum zu schieben. Mal sehen.