Die neue Rentenlüge mit dem demographischen Faktor

Carsten Linnemann

Dr. Carsten Linnemann (CDU) schürt die Angst vor dem "demographischen Wandel" - Foto: © Deutscher Bundestag / Achim Melde

Artikel aktualisiert am 31.12.2018

Sie klingt uns allenthalben entgegen, die Angst vor dem „demographischen Wandel“. Weil die Deutschen immer weniger Kinder in die Welt setzen, sind unsere Renten in Gefahr. Oder etwa doch nicht?

Bezeichnender Weise kommt die Panikmache überwiegend aus einer Richtung: Dem Lager derer, die der Wirtschaft besonders nahe stehen. Es wird uns genau vorgerechnet, wie viele Arbeitnehmer in welchem Jahr für wie viele Rentner aufkommen müssen. Dabei scheut man sich nicht, zwanzig, dreißig, ja, auch fünfzig Jahre voraus zu denken – obwohl alle Erfahrung zeigt, dass solche Prognosen die in der Zukunft liegenden Unwägbarkeiten überhaupt nicht abbilden können und deshalb jede Seriosität vermissen lassen. Beabsichtigt ist unter anderem die Förderung der Bereitschaft zur privat finanzierten Vorsorge, was zum Beispiel der Versicherungswirtschaft in den vergangenen Jahren enorme Zuwächse beschert hat.

Die sich mit einer Aura der Fürsorglichkeit gegenüber ihren Mitbürgern umgebenden Agitatoren verschleiern die fehlerhaften Schlussfolgerungen, die in Wahrheit das Fundament ihrer Argumentation sind. Denn die Annahme, möglichst viele arbeitende Menschen seien unbedingt nötig zur Versorgung einer größer werdenden Zahl von Rentenempfängern, ist schlichtweg falsch, wie schon ein Blick auf das letzte Jahrhundert zeigt. Im Jahr 1900 lag der Anteil der Rentner bei unter 5 Prozent und verdreifachte sich bis zur Jahrtausendwende auf 17 Prozent. Die Renten hätten folglich sinken müssen.

Aber das Gegenteil war der Fall: Die Renten stiegen von nahe Null auf ein erträgliches Niveau im Jahr 2000. Möglich machte das der Produktivitätsfortschritt, also der Zuwachs an Produktivität jedes einzelnen Arbeitnehmers. Wie das sein kann, erläuterte Gerd Bosbach, Professor für Statistik, Mathematik und Empirie an der Fachhochschule Koblenz, schon 2012 sehr anschaulich in einem Beitrag beim „Deutschlandradio Kultur“: „Wir brauchen nur noch nachzurechnen: Beträgt der Produktivitätsfortschritt in den nächsten 50 Jahren durchschnittlich nur ein Prozent – und das ist eine sehr pessimistische Prognose für unsere Wettbewerbswirtschaft – so würden im Jahr 2060 in jeder Arbeitsstunde zwei Drittel mehr als heute hergestellt. Damit wäre ein Arbeitnehmer in der Lage, seinen Anteil für die gesetzliche Rente auf 20 Prozent zu verdoppeln und hätte trotzdem noch fast 50 Prozent mehr in der Tasche. Selbst ein absurd hoher Arbeitnehmer-Anteil von 30 Prozent für die Rente ließe ihm noch 28 Prozent mehr in seiner Tasche. Dazu käme dann noch der Arbeitgeberanteil, so dass die prognostizierte höhere Rentnerzahl sogar noch gut am Fortschritt teilnehmen könnte.“

Im vorigen Jahrhundert wurden die Arbeitnehmer am Produktivitätsfortschritt angemessen beteiligt; es gab durchweg über der Inflationsrate liegende Lohnerhöhungen, ausgehandelt von starken Gewerkschaften einer in hohem Maße dort organisierten Arbeitnehmerschaft. Das hat sich nun aber geändert. Die Gewerkschaften sind sehr viel schwächer geworden, haben viele Mitglieder verloren. Das Lohnniveau ist über Jahre gesunken, und wenn es noch steigt, dann weit unterhalb des Zuwachses an Produktivität. Der nämlich wird von den Unternehmen als Gewinn vereinnahmt, für weltweite Zukäufe genutzt oder an die Kapitalgeber ausgezahlt. Die Konzentration schreitet in vielen Branchen ungebremst fort, und wenige Kapitaleigner besitzen immer größere Vermögen, während immer mehr Menschen von Mindestlöhnen leben müssen.

Die Linnemänner dieser wirtschaftsfreundlichen Welt arbeiten hart dafür, dass das auch so bleibt. Und sie bedienen sich bei ihrer populistischen Argumentation unverdrossen des „demographischen Faktors“, missbrauchen ihn für ihre allzu eingängige Milchmädchenrechnung. Politiker fast aller Parteien fallen darauf herein und wollen uns weismachen, dass es zwangsläufig zum Verfall der Renten kommen muss, weil zu wenig Kinder geboren werden, und verlangen ausgerechnet von denen, deren Einkommen ohnehin schon kaum zum Überleben reicht, Invesitionen in private Zusatzversicherungen. Abgesehen davon, dass ein Blick in die USA und auf die Kapitalvernichtung bei den dortigen Pensionskassen in Folge der Finanzkrise jeden vernunftbegabten Menschen eines Besseren belehren müsste, wird der bequeme Irrweg beständig weiter propagiert.

Und wieder stellt sich die Frage: Wem nutzt es? Unternehmen zum Beispiel oder Politikern, die auf lukrative „Beraterverträge“ und / oder eine einträgliche „Anschlussverwendung“ hoffen. Arbeitnehmern und Rentnern allerdings nicht. Im Gegenteil: Sie werden für dumm verkauft, damit sie sich mit niedrigen Löhnen während ihres Arbeitslebens und mit kleineren Renten danach begnügen.

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