Kommentar: Flüchtlingskrise ist wirklich kein deutsches Problem

Viktor Orbán geriert sich als europäischer Chef-Zyniker in Flüchtlingsfragen - Viktor Orban - Foto über dts Nachrichtenagentur

Viktor Orbán geriert sich als europäischer Chef-Zyniker in Flüchtlingsfragen - Viktor Orban - Foto über dts Nachrichtenagentur

Artikel aktualisiert am 06.11.2015

Nach wie vor sträuben sich viele EU-Mitglieder mit Händen und Füßen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, lehnen eine Quotenregelung kategorisch ab.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán avancierte zu Europas Chef-Zyniker mit der Äußerung, es handele sich bei den Zigtausenden, die in Ungarn auf die Möglichkeit zur Weiterreise warteten, nicht „um ein ungarisches, sondern um ein deutsches Problem“. Er meinte damit, dass Deutschland den Asylsuchenden mit zu viel Hilfsbereitschaft entgegenkomme und dadurch verantwortlich sei für die ständig wachsende Zahl an Hilfesuchenden.

Orbán befindet sich in übler Gesellschaft: Länder wie das stockkatholische Polen wollen zum Beispiel nur Christen Asyl gewähren. Die bayerische CSU trägt das „C“ zwar im Namen, verhält sich aber, im Gegensatz zu großen Teilen der bayerischen Bevölkerung, ganz und gar unchristlich. Ihnen gemein ist, dass sie in all ihrer egozentrischen Frömmelei völlig vergessen haben, was der Kern des Christentums eigentlich ist. Denn dessen alles prägende Botschaft, sozusagen der ureigene Markenkern, ist die Nächstenliebe. Wer Leuten wie CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer und seinen Gesinnungsgenossen zuhört, bekommt dabei neben der Erkenntnis, dass diese selbst ernannten Christen das „C“ für ihren Parteinamen auf übelste Art missbrauchen, auch noch das kalte Grausen.

Nur mal zur Klarstellung: Niemand, nicht ein einziger, macht sich auf den gefährlichen Weg von Syrien nach Europa, zahlt mehrere Tausend Euro für zweifelhafte Schlepperdienste, um in Deutschland ein Acht-Bett-Zimmer in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu beziehen und monatlich 143 Euro Taschengeld „abzukassieren“.

Was Mut macht, ist ein offenbar seit den 90er Jahren vollzogener Wandel in den Köpfen und Herzen der Deutschen. Denn den ankommenden Flüchtlingen schlägt überall eine Welle der Hilfsbereitschaft entgegen, und wo gegen Asylbewerber demonstriert wird, stellen sich den Neo-Nazis Bürgerinnen und Bürger in wesentlich größerer Zahl entgegen. Diese positive Grundstimmung zu erhalten, muss zwingend ein Ziel sein bei allen Maßnahmen, die von der Politik jetzt zu beschließen sind. Ganz wichtig dabei ist, dass die Hilfsbereitschaft auch in anderen EU-Ländern gefördert wird, statt sie mit dumpfen Parolen abzuwürgen.

Somit sollte die EU den Asyl-Gegnern entschlossen entgegentreten. Wer den Eindruck erweckt, der Gemeinschaft nur beigetreten zu sein, um daraus nationale, finanzielle Vorteile zu generieren, sollte genau da gepackt werden: Die Streichung von EU-Mitteln sollte all jenen Staaten drohen, die sich einer Quotenregelung verweigern, und umgekehrt sollten diejenigen auch durch Geld unterstützt werden, die an der Lösung des Problems aktiv mitarbeiten. Bei der Festlegung von Quoten allerdings ist Fingerspitzengefühl gefragt: In Lettland zum Beispiel ist die Zahl der aus Russland Stammenden so hoch, dass es eine besondere Angst vor Überfremdung gibt. Und auch in anderen Mitgliedsländern mit vergleichbaren Problemen sollte dies bei der Zuweisung von Flüchtlingen berücksichtigt werden.

Davon einmal abgesehen, gibt es auch EU-Mitglieder, die sich wie Großbritannien nur deshalb widersetzen, weil sie innenpolitische Folgen befürchten und die Kosten scheuen. Wenn aber die maßgeblichen Politiker nachhaltig an der Weiterentwicklung der Grundstimmung arbeiten, statt den grölenden Fremdenhassern nach dem Mund zu reden, wird sich auch hier das Klima verändern. Die deutsche Politik ist sich momentan in wesentlichen Fragen der Behandlung von Flüchtlingen Partei übergreifend einig. Diesen glücklichen Umstand gilt es nun rasch zu nutzen, um auch andere Mitgliedsländer zu „infizieren“.

Im Übrigen ist es völlig egal, ob Viktor Orbáns Ungarn nicht in der Lage ist, für die Flüchtlinge akzeptable Bedingungen zu schaffen, oder bewusst durch Ungastlichkeit abschrecken will: Das ist auf jeden Fall kein deutsches Problem, sondern ein ganz und gar ungarisches.

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